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»Angeblich rote Linien werden immer wieder verschoben«

Interview in der Tageszeitung Junge Welt: Weiterbetrieb der Atomkraftwerke: Entscheidung der Bundesregierung sorgt für Kritik. Ein Gespräch mit Franz Wagner

Interview: Gitta Düperthal

Im Koalitionspoker um den geplanten Atomausstieg hat das Bundeskabinett am Mittwoch die Entscheidung von Kanzler Olaf Scholz abgesegnet, dass drei Kraftwerke, die am 31. Dezember vom Netz gehen sollten, bis April 2023 weiterlaufen. Wie bewerten Sie diesen Beschluss?

Festgelegt ist, was der »grüne« Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Robert Habeck, bisher nur unverbindlich ankündigte: Es soll nicht nur eine Reserve, sondern auch tatsächlichen Betrieb geben – und zwar nicht nur im Fall der beiden Kraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim 2, sondern nach Forderungen der FDP auch beim dritten AKW im niedersächsischen Emsland. Das ist vollkommen sinnlos, weil dort Windkraft im Überschuss vorhanden ist. Noch ist fraglich, ob Scholz seine Festlegung, dass am 15. April mit allen drei Kraftwerken Schluss sein soll, einhalten können wird – FDP, CDU/CSU und AfD werden weiterhin drängeln. Dabei gerät aus dem Blick, dass der Kanzler neben den schlechten Entscheidungen zu den AKW weitere hochproblematische Beschlüsse zu fossilen Energieträgern getroffen hat: die Verlängerung der Kohlekraftwerke im Ruhrgebiet und den Neubau von Gaskraftwerken.

Noch im November soll all das in Bundestag und Bundesrat durchgewunken werden. Was ist davon zu halten, dass die CDU/CSU schon jetzt Weiterbetrieb mit neuen Brennstäben bis 2024 fordern?

Der Kanzler hofft vermutlich vergebens, den Streit beigelegt zu haben – zumal auch innerhalb der Regierungskoalition weiter gebohrt wird. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner hat sofort einen Satz über den Winter 2023/24 nachgeschoben, für den sich auch noch »tragfähige Lösungen« finden ließen. Sein Parteikollege im Landtag Baden-Württembergs, Hans-Ulrich Rülke, kündigte bereits »Wiedervorlage« an. Seit Jahresbeginn beobachten wir: Angebliche rote Linien werden immer wieder verschoben.

 

Selbst Wirtschaftsminister Habeck hat ja mittlerweile erkannt, dass die Strompreise hauptsächlich durch Börsenprozesse in die Höhe schießen  unabhängig davon, ob Knappheit gegeben ist.

Das betrifft nicht nur die ansteigenden Preise, sondern auch die »bedrohte Netzstabilität«. Ursache dafür waren beispielsweise Spekulationen an der Strombörse. Verkauft wurde etwa nur für dringende Notfälle reservierter Strom. Um solche Verzerrungen zu vermeiden, braucht es Änderungen am Strommarkt. Ergebnisse des »Stresstests« zeigen, dass es nicht um die reale Versorgungslage geht: Durch die geplante Umverteilung in Europa wird sich an der für Deutschland zur Verfügung stehenden Strommenge auch durch den Weiterbetrieb der AKW nichts ändern.

Weiteres Paradoxon: Der Markt berücksichtigt die begrenzten Leitungskapazitäten nicht. An der Börse wird Strom ortsunabhängig gehandelt – egal, ob er an den Bestimmungsort transportiert werden kann. All das schafft Instabilität. Dazu habe ich von Habeck nichts gehört. Aus meiner Sicht müssten die Flächenländer einen hohen Preis zahlen, in denen es wenige Windkrafträder gibt – etwa Bayern und Baden-Württemberg.

Eine ursprünglich für diesen Sonnabend geplante Antiatomkraftdemo zum AKW Neckarwestheim wird nun am 6. November stattfinden. Ziel ist das sofortige und endgültige Abschalten aller drei Kraftwerke, spätestens jedoch am 31. Dezember. Warum ist Ihnen dieses Datum so wichtig?

Atomkraftwerke sind nicht sicher. Das Unfallrisiko durch Spannungsrisskorrosion in den Heizrohren der AKW Neckarwestheim 2 und Isar 2 erhöht sich mit jedem Tag weiter. Bei geplantem Runter- und Hochfahren ist das hochgefährlich. Sie dürfen keinen Tag länger am Netz bleiben, um Folgen im Fall eines Anschlags zu begrenzen – auch bei einem Flugzeugabsturz droht Gefahr. Obendrein sind die geplanten Verlängerungen nicht ohne Verfassungsbruch zu unternehmen. Ändert man aber das Atomgesetz, um es dennoch tun zu können, öffnet dies zugleich die Tür zu jahrelanger Verlängerung. Dieser Dammbruch muss verhindert werden.