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75 Jahre Erhard Jöst, 35 Jahre Gauwahnen – Gratulation, Gratulation von Herzen.

Unser Stadtrat Dr. Erhard Jöst wurde 75 Jahre alt. Als LINKE gratulieren wir ihm herzlich und bedanken uns für sein Engagement und Expertise im Heilbronner Gemeinderat. Wir wollen dazu hier die Würdigung des Kabarettarchivs veröffentlichen, die so treffen gelungen ist:

Schlage die Trommel und fürchte dich nicht und küsse die Marketenderin,
das ist die ganze Wissenschaft, das ist der Bücher tiefster Sinn (Heinrich
Heine).
75 Jahre Erhard Jöst, 35 Jahre Gauwahnen – Gratulation, Gratulation von
Herzen.
Schriftsteller, Wissenschaftler, Maler, Politiker, Pädagoge und Kabarettist:
Heilbronns ‘enfant terrible‘ vereint viele Talente in sich, nicht zuletzt das
selbst unter Satirikern viel zu seltene Talent, aufrichtig unbequem zu sein.
„Pointen müssen sitzen“, hat Werner Finck dies in einem längst
vergangenen Jahrhundert doppeldeutig formuliert, dass Pointen auch
strafversetzen können, hat Erhard Jöst vor vierzig Jahren nach Heilbronn
gebracht. Und hier hat er sein persönliches Krähwinkel gefunden, eine
geistige Provinz, an der sich der meinungsstarke Humanist seitdem
abarbeitet. Im Schuldienst (ich vermute, Du warst ein guter Lehrer, einer,
den man in bester Erinnerung behält) und als engagierter Bürger.
Freundlich, aber bestimmt, begeisterungsfähig und andere begeisternd,
obrigkeitsskeptischer Kämpfer wider die selbstverschuldete Unmündigkeit
des Untertanen. Was Dir, wie Wolfgang Neuss, unter anderem auch den
Ausschluss aus der SPD eingebracht hat. Was ich persönlich als besondere
Ehre ansehe, aber ich weiss, wie tief es dich verletzt hat. Für mich bist Du
ein ins 21. Jahrhundert transferierter 1848er, ein Ur-Demokrat, der „trotz
alledem und alledem“ an dem festhält, was der Poet der kritischen
Phantasie Hanns Dieter Hüsch so formuliert hat:
„Kapitulation ja, aber Resignation nie. Optimismus ungern, aber Zuversicht
immer. Ich war und bin immer ein Prediger und ein Zweifler, mal mit der
Fackel in der Hand, mal mit der Narrenkappe auf dem Gehirn.“
Was mich zum zweiten Jubilar des Abends bringt, den aus einer
Geburtstagslaune heraus entstandenen Gauwahnen. „Ein steinerweichend
schlechtes Kabarett“, dessen Langlebigkeit allein – und 35 Jahre sind
insbesondere für ein Amateurkabarett ohne eigene Bühne eine nicht hoch
genug einzuschätzende Leistung – all dem Hohn spricht, was in der
Lokalpresse seit den Anfängen zu lesen war. Gelungene Satire erkennt
man am Zorn des Gegners, und daran gemessen, seid ihr: Spitze! (falls
sich noch jemand an Hans Rosenthal erinnert).
Euer erstes Programm versprach 1988 ‚Chaos Regional‘, und das habt ihr,
wenn auch vielleicht unbeabsichtigt und in anderem Sinne, erreicht. Ihr
habt Heilbronn aufgemischt, Anstoß erregt, und was will ein Kabarettist,
der diesen Titel ernst nimmt, mehr.
Heute und schon seit längerem als ‘Viererbande‘ mit Alexandra Müller-
Kilgus, Eva Schwindt-Läpple, Niklas Albrecht und last but not least Erhard
Jöst als Spiritus rector unterwegs, sind es inzwischen knapp dreissig
Programme und Sonderprogramme, die in der Tradition des
journalistischen, Aufklärung und Spielfreude verbindenden Kabaretts der
Hildebrandtschen Lach- und Schiessgesellschaft stehen. Hinzu kommt die
(Wieder)Entdeckung Ludwig Pfaus, ein meiner Ansicht nach viel zu wenig
gewürdigter literarischer Verdienst. Sowie die Nacht der Deutschen
GemEinheit, ein Brückenschlag zwischen Ost und West, der immer noch,
und nicht nur im Kabarett, Ausnahme ist.

Angesichts all der Auseinandersetzungen und Schwierigkeiten kann ich nur
schlussfolgern: Eure Satire verpufft nicht, sondern wirkt, und ein höheres
Lob gibt es kaum. Ihr beweist in, wie es dem Messfremden erscheint,
kabarettunfreundlicher Umgebung erstaunliche Überlebensqualitäten, und
das in Zeiten, in denen das politische Ensemblekabarett insgesamt leider
auf der Liste der bedrohten Arten steht. Eine Bereicherung, vielleicht
inzwischen sogar eine Institution des Heilbronner Kulturlebens, der man,
kleine Anregung meinerseits, vielleicht wenigstens einen Probenraum von
Seiten der Stadt zur Verfügung stellen könnte. Von großer Musikalität, mit
zwei starken Frauen im Ensemble (was auch 2022 immer noch eine
Seltenheit ist), und mit einer Leidenschaft bei der Sache, die so manchem
Profi gut zu Gesicht stünde. Respekt, Polt‘schen Respekt! für euren Weg,
der euch von der SPD-Maifeier auf eine Bühne mit der unumstrittenen
Ikone des politischen Kabaretts Dieter Hildebrandt brachte. Dietrich Kittner
hat euch schon früh einen Rat gegeben, und dem ist außer herzlichen
Glückwünschen meinerseits nichts hinzuzufügen:
„Lass euch das heiße Herz nicht einschnüren!“
In diesem Sinne: Geniesst den Abend, feiert bis zum frühen Morgen - und
küsst die Marketenderin.


Matthias Thiel, Deutsches Kabarettarchiv Mainz